Der Anstieg der Zinsen stellt das Wirtschaftsmodell der vergangenen Jahre auf die Probe. Den Finanzmärkten könnte ein Paradigmenwechsel bevorstehen.
Wir stehen vor einer Richtungsentscheidung: Entweder, wir nutzen die seit vier Jahrzehnten nicht mehr gesehene Likelihood, am höchsten Punkt des Konjunkturzyklus das Zinsniveau zu fixieren, oder wir erleben einen Paradigmenwechsel, bei dem das Übergreifen des Staats in der Wirtschaftspolitik zu einer schöpferischen Zerstörung im Sinne Joseph Schumpeters führt.
Likelihood oder Zerstörung?
Klingt nach einer einfachen Wahl, aber dem ist nicht so: Die Likelihood ergibt sich aus einem dysfunktionalen Markt und einem auf Staatsinterventionismus beruhenden Wirtschaftsmodell – die schöpferische Zerstörung nach Schumpeter hingegen ist der natürliche Prozess der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung.
Wir sehen drei verschiedene Szenarien mit entsprechenden Wahrscheinlichkeiten:
- Likelihood: Die Zinserhöhungen durch die geldpolitischen Entscheidungsträger sind an ihr Ende gekommen (Wahrscheinlichkeit: 50%).
- Staatliche Übergriffigkeit: Immer mehr Eingriffe sind notwendig, um die Wirtschaft nach dem alten Modell am Leben zu erhalten (35%).
- Schöpferische Zerstörung: Rückführung der Wirtschaft auf eine marktbasierte Verteilung unter Akzeptanz vollständiger Wirtschaftszyklen (15%).
Likelihood
Die gegenwärtig zu hohen realen Zinsen wirken sich massiv auf Branchen und Verbraucher mit Finanzierungsbedarf aus. Dazu gehören bereits Unternehmen im Bereich der Energiewende und der grünen Transformation, etwa die Entwickler von Offshore-Windkraftanlagen: Der wirtschaftliche Wert ihrer Projekte rutscht bei den derzeitigen Zinsen tief in die roten Zahlen.
Viele Konsumenten haben inzwischen ihre während der Covid-Pandemie angehäuften Ersparnisse ausgegeben, und da die Kosten für Kreditkarten, Hypotheken und Autokredite doppelt so hoch sind wie im historischen Durchschnitt, müssen sie nun ihre Ausgaben herunterfahren. Das kann die Konjunktur erheblich dämpfen.
Es besteht zudem das Risiko eines Liquiditätsereignisses: Schliesslich machen die Regierungen derart schnell Schulden, dass die üblichen Käufer von Staatsanleihen eine Reihe von Titeln mit erheblichen Buchverlusten in ihren Büchern haben.
Wir halten sowohl eine Konjunkturschwäche als auch ein Liquiditätsereignis für gleichermassen wahrscheinlich.
Staatliche Übergriffigkeit
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn man über staatliche Übergriffigkeit als zukünftiges Szenario schreibt, obwohl es sie doch bereits gibt. Das Ausmass immer neuer staatlicher Vorschriften ist besorgniserregend – nicht wegen der damit verbundenen Absichten, sondern wegen ihrer praktischen Umsetzung, die Bürokratie ohne Ende verheisst.
Europa führte am 1. Oktober einen CO2-Grenzausgleichs-Mechanismus ein, ein klassisches protektionistisches Steuerhemmnis unter neuem Namen. Grüne Regulierungen und Nachhaltigkeits-Kennzahlen sind in den Elfenbeintürmen von Politik und Zentralbanken das grosse Schlagwort. Es soll der Eindruck erweckt werden, man packe die Dinge an. Dabei macht man privaten Lösungen und Initiativen das Leben schwer.
Das Scheitern dieses Ansatzes ist mit Händen zu greifen. Auf diese Erkenntnis wird dann meist entgegnet, es gebe nicht ein Übermass an Regulierung und Regierungspolitik, sondern zu wenig.
An dieser Stelle empfiehlt sich eine kurze Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Alles, was nicht produktiv ist, ist zum Scheitern verurteilt – sofern der Staat es nicht künstlich am Leben hält. Das allerdings ist ein sehr wahrscheinliches Szenario.
Privates Kapital und non-public Initiativen zurückzudrängen, ist nie eine gute Idee. Ein solcher Ansatz führt zu steigenden Defiziten, einem untragbaren Schuldenniveau und der Notwendigkeit, für alles – vom Kapital bis zu den Preisen – Höchstwerte festzusetzen.
So kommt es zur Steuerung von Preisen, Mieten und sogar Zinskurven, weil die Politiker meinen, die Wirtschaft zentral steuern und die Wähler «schützen» zu müssen. In einem solchen Szenario steigt das Endniveau der Rendite zehnjähriger Treasury Notes im aktuellen Zinszyklus wahrscheinlich auf 5 bis 5,5%.
Schöpferische Zerstörung
Libertäre Ökonomen kehren regelmässig zu Schumpeters Theorie zurück: Demnach bedarf unser Wirtschaftsmodell in regelmässigen Abständen einer Artwork Waldbrand, durch den die Parameter zurückgesetzt und Fortschritte mittels Innovation und produktiveren Methoden erzielt werden. So soll eine Krise den Boden für neues Wachstum bereiten.
Das Risiko besteht hier vermutlich darin, dass diese Krise durch die ständig zunehmende Ungleichheit hervorgerufen werden muss. Zwischen den Jungen und den Alten, zwischen kleinen und mittelgrossen Unternehmen einerseits und multinationalen Konzernen andererseits, zwischen Reichen und Armen.
Ich bezweifle zwar, dass das Wirtschaftsmodell zu diesem Szenario übergehen wird. Es wurde bereits viel zu viel politisches Kapital in die derzeit vorherrschende Überzeugung investiert, alles stabil zu halten und Rezessionen um jeden Preis zu vermeiden.
Es besteht allerdings die Möglichkeit, dass die Wahlbevölkerung genug hat. Im Second legt die Rechte mit ihrem Versprechen, den Einzelnen vor staatlichen Übergriffen zu bewahren, insbesondere in Europa in den Umfragen zu.
Mich erinnert das aktuelle Umfeld stark an die Achtzigerjahre, als die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik von Arthur Laffer angesagt conflict, sowie an die Zeit nach der Finanzkrise 2008, als Richard Koo das Konzept der Bilanzrezession einführte. Und welche Ökonomen stehen heute wieder im Rampenlicht? Laffer und Koo!
Die Achtzigerjahre waren die Gegenbewegung zu den von massiven staatlichen Eingriffen geprägten Siebzigerjahren mit ihren Preiskontrollen, hohen Energiepreisen, dem Zusammenbruch von Bretton Woods, hohen Lohnsteigerungen, Inflation und Abwertungen.
Kommt Ihnen das bekannt vor? Auch heute sehen wir wieder hohe Energiepreise, Lohnsteigerungen, Inflation und Abwertungen.
Nun gilt es, herauszufinden, wie der nächste Zyklus aussehen wird. Häufig besteht er im Gegenteil von dem gerade Erlebten.
Aber vielleicht werden wir in den kommenden zehn Jahren ja auch alle drei Szenarien erleben?
Erst die Likelihood, dann die staatliche Übergriffigkeit und schliesslich den Übergang zu Schumpeters schöpferischer Zerstörung.
Darauf würde ich tippen. Viele Akteure wollen vermutlich an das aktuelle Wirtschaftsmodell noch einen weiteren Konjunkturzyklus anhängen, was durchaus möglich erscheint, wenn für alle und alles «Schutz» geboten wird. Das bedeutet aber, dass die Kapitalkosten nicht mehr weiter steigen können, da wir sonst direkt zum Schumpeter-Second gelangen.
Der König ist tot. Lang lebe der König.
Steen Jakobsen
Steen Jakobsen arbeitet seit 2000 für die dänische Saxo Financial institution und ist ihr Chief Funding Officer. Er ist verantwortlich für die Asset-Allocation-Strategien sowie die Analyse des konjunkturellen und des politischen Umfelds. Als Leiter des Strategieteams ist er für das gesamte Analysis einschliesslich der vierteljährlichen Prognosen zuständig. Zudem ist er der Begründer der «Outrageous Predictions» der Saxo Financial institution. Zuvor arbeitete er unter anderem beim Schweizerischen Bankverein, bei Citibank, Chase Manhattan, UBS und bei Christiania (heute Nordea).