Nach der Rückkehr aus den Sommerferien, dem „Rientro“, findet sich die Regierung Italiens vor unerwartet großen Herausforderungen; in Reaktion darauf fallen Regierungsparteien in alte Verhaltensmuster zurück. Selbst Giorgia Meloni bezichtigt unspezifisch „übliche Bekannte“ der Verschwörung.
Zwei große Problemkomplexe tun sich hervor: Die kaum noch zu bewältigen Flüchtlings-Ankünfte in Lampedusa, weit mehr als aufgrund der Vereinbarungen mit Libyen und Tunesien erwartet, und die Haushaltsdefizite, die sich höher als befürchtet bei der Revision der Haushaltsplanung auftun. Erschwert wird die Regierungsarbeit durch den beginnenden Wahlkampf für das EU-Parlament 2024, bei dem jede der Koalitionsparteien ihre Place sichern oder verbessern will, was jeweils auf Kosten der anderen geht. Einstweilen sind außerdem noch vielfältige geplante Maßnahmen (https://www.blog-der-republik.de/meloni-zieht-es-durch/) abzuarbeiten und Gesetze zu verabschieden. Und die Kakophonie von teils stümperhaften, teils boshaften, teils nicht verfassungskonformen Verlautbarungen aus dem Kreis der Regierungsparteien nimmt kein Ende.
In letzter Zeit verliert die Ministerpräsidentin ihre bisherige, auch von Gegnern anerkannte souveräne Handhabung der Regierungsführung und schließt sich merkwürdigen Äußerungen von Parteifreunden und Koalitionsvertretern über eine Verschwörung an, die es darauf abgesehen habe, die gewählte Regierung wieder von einer Technokraten-Truppe ablösen zu lassen. Das ist unverständlich angesichts der klaren Mehrheiten der Koalition in beiden Häusern, die alle ein Interesse haben müssten, die Regierung zu stabilisieren.
Erklären lässt sich das damit, dass die Regierung und die sie tragenden Parteien die Kritik in der Bevölkerung an den absehbaren Schwierigkeiten umlenken wollen auf ausländische Regierungen, an erster Stelle die deutsche, auf die Europäische Zentralbank, auf die Opposition, auf die Justiz oder auf Wirtschaftskonzerne und sonstige dunkle Mächte.
Migrationskrise
Die hohe Zahl – an einzelnen Tagen bis zu 7000 – der in Lampedusa in einfachen, häufig seeuntüchtigen Booten ankommenden Migranten erwischt Italiens Regierung unvorbereitet. Nach der im Juli gemeinsam mit der EU getroffenen Vereinbarung mit Tunesien hatte Giorgia Meloni das nicht erwartet. Offenbar hat die tunesische Regierung die Boote bei ruhigem Wetter nicht am Ablegen behindert. Vermutet wird, dass sie eine raschere Umsetzung und Geldflüsse erwartet hatte, jetzt als Druckmittel die Schlepper an der tunesischen Ostküste wieder ungestört gute Geschäfte machen lässt und die Rückführung nach Libyen eingestellt hat.
Nach dem Papst, der schon im Juli auf Lampedusa battle und vor allem die Rückführungs-Praxis Tunesiens scharf kritisiert hatte, sind Staatspräsident Matarella mit Bundespräsident Steinmeier, die Damen Meloni und von der Leyen gemeinsam angesichts der vielen Ankünfte kurz in Lampedusa gewesen. Frau Meloni hat darüber in der UNO gesprochen und internationale Maßnahmen gegen Schlepper gefordert. Politisch hat die italienische Regierung dann rasch ein 10 Punkte-Programm aufgestellt. Das Programm ist mit heißer Nadel gestrickt („mit den Füssen geschrieben“). Die Rechnung ist teils ohne den Wirt gemacht, teils nicht rechtssicher. Regionen, die mehr Zentren für längere Anerkennungsverfahren mit dem Ziel der Abschiebung (Cpr) einrichten sollen, stimmen dem nicht zu Von dieser Internierung sollen sich Asylbewerber nur gegen Kaution von knapp 5000 Euro fernhalten können. Ein Gericht in Catania hat Klägern gegen die Internierung in einem Cpr Recht gegeben, da der Zwang gegen EU-Recht und Verfassung verstoße. Die darauffolgenden Attacken Melonis und ihrer Getreuen auf die Richterin in Catania haben die Reaktion vieler Juristen und Befürchtungen um die Unabhängigkeit der Justiz hervorgerufen.
Meloni wollte wieder schnell Präsenz und Handlungsstärke zeigen, wie schon nach der Boots-Katastrophe von Cutro oder nach der Kindervergewaltigung in einem verwahrlosten Vorort von Neapel und nach der vergleichsweise lächerlichen Rave-Social gathering im Jahre 2022, Ereignisse nach denen die Exekutive umgehend Dekrete erließ und von der Parlaments-Mehrheit absegnen ließ.
In dieser spannungsgeladenen Scenario wurde bekannt, dass die deutsche Bundesregierung weiterhin zur Finanzierung der NRO-Rettungsschiffe im Mittelmeer beiträgt, die wiederum von der italienischen Regierung behindert werden – gemäß dem eigenen Narrativ, dass solche Rettungsaktionen ein Pull-Faktor für die Migration darstellen. Das nutzten einige Vertreter der Regierungsparteien zu Vorwürfen in den Medien aus, bis hin zu dem Vorwurf, dass Deutschland die italienische Regierung destabilisieren wolle. Die Ministerpräsidentin und der Außenminister trugen ihr Missfallen dann auch offiziell vor, was die deutschen Associate jedoch zurückwiesen. Gleichzeitig fanden in Brüssel Verhandlungen über die neuen verschärften Asylregeln statt, bei denen Deutschland erst sehr spät einem Kompromiss der spanischen Ratspräsidentschaft in Bezug auf den Krisenmechanismus zustimmte, und Italien mit etwas Verzögerung ebenfalls, sodass die Ablehnung von Ungarn und Polen und die Enthaltung anderer überwunden werden konnte. Mit anderen Worten: Es herrscht eine schlechte Stimmung zwischen der deutschen und der italienischen Regierung, was von einigen italienischen Regierungsparteien im beginnenden EU-Wahlkampf propagandistisch ausgenutzt wird.
Offensichtlich will die italienische Regierung mit diesem vom Zaun gebrochenen Streit von ihrer eigenen Fehleinschätzung der Migration im Mittelmeer, von ungeeigneten Maßnahmen und der anschließenden Überfüllung in Lampedusa ablenken. Ob das bei vielen italienischen Wählern verfängt, muss man abwarten.
Dass Deutschland mindestens so große Migrationsherausforderungen hat wie Italien, wird in Italien thematisiert. Allerdings wird in der Debatte als widersprüchlich dargestellt, dass Deutschland bei seiner eigenen Flüchtlingspolitik seinerseits an den Grenzen stärker kontrolliert, aber im Mittelmeer Flüchtende nach Italien verhilft. Substanziell ist letzteres kein großes Thema, da die NRO-Rettungsschiffe insgesamt weit weniger als 10% der Auswanderer aus dem Mittelmeer aufnehmen, und dass nur einzelne NROs eine deutsche Finanzierung erhalten. Es eignet sich aber intestine als Thema für Zänkereien über die wiederkehrende (uralte) Einmischung Deutschlands. Damit wird aber auch eine Anti-Deutschland-Stimmung wiederlebt, die vor einem Jahrzehnt verbreitet battle und die man überwunden glaubte, was allerdings nie bei der nationalistisch gewordenen Lega Matteo Salvinis der Fall battle.
Als Kontrapunkt zu der aktuellen Abschottung und den lauten Querelen erhielt bei den Filmfestspielen von Venedig 2023 der dramatische Spielfilm „IO CAPITANO“den silbernen Löwen, der die Migration über Libyen nach Italien aus der Sicht von Brüdern aus dem Senegal darstellt, die allerdings eher Auswanderer auf der Suche nach Erfolg als Flüchtende waren. In diesem Movie kommt im Übrigen auch ein Funk-Kontakt von libyschen Schleppern mit der Besatzung eines NRO-Rettungsschiffes vor. Wie auch in Deutschland bekannt wurde, wird dies, aufgrund von Recherchen aus dem Jahr 2017 mindestens einer deutschen Organisation von einem Staatsanwalt in Sizilien vorgeworfen.
Budgetdefizite
Nach dem „Rientro“ legte die Regierung auch eine Anpassung der mehrjährigen Finanzplanung (NADEF) vor. Diese weist auf höhere als erwartete Haushaltsdefizite in den kommenden Jahren hin, auch aufgrund schwächerer Wirtschafts-Wachstumsprognosen. Immediate weitete sich am Kapitalmarkt der sogenannte Unfold, der Abstand der Verzinsung italienischer Staatspapieren zu der von Bundespapieren auf knapp 200 Basispunkte, als ohnehin die Renditen der Bundesanleihen auf etwa 3% gestiegen sind. So wird die Neuverschuldung künftig noch höhere Mittel erfordern. Der Finanzminister ringt um mehr Realismus. Die Regierung kürzte nach dem Bürgergeld auch die hohen steuerlichen Abschreibungen bei Bausanierungen. Meloni forderte alle Ministerien zu Kürzungen Haushaltsanmeldungen auf, mit wenig Resonanz. Der Innenminister und Vizeministerpräsident Salvini will nicht auf eine Budgetierung von Prestigeprojekten wie einer Brücke vom Festland nach Sizilien verzichten und auch nicht auf Pläne zur Steuersenkung. Stattdessen schlägt er weitere Erlasse von schwer eintreibbaren Steuerschulden und Strafen im Mittelstand vor, wenn die Schuldner kurzfristig einen Teil zu zahlen bereit sind Dies wiederum wird von der Opposition als Bevorzugung der Bessergestellten gebrandmarkt.
Mitten in dem Hin und Her nach dem NADEF taucht dann der Verdacht auf, dass die „üblichen Bekannten“ die gewählte Regierung durch eine technische Regierung á la Draghi ablösen wollen. Erinnert wird daran, dass vor Jahren Berlusconi von Merkel und Sarkozy mit der Unterstützung des (gerade verstorbenen) damaligen Staatspräsidenten Napolitano zum Amtsverzicht gedrängt wurde, und Mario Monti mit einer „technischen Regierung“ die Regentschaft übernahm. Dass Georgia Meloni selbst diesen Verschwörungsverdacht äußerte, obwohl es dafür angesichts der klaren Parlamentsmehrheiten der Koalition nicht den geringsten Ansatz gibt, scheint nicht souverän. Sie scheint unter dem ersten echten massiven Problemdruck die Fassung zu verlieren. So macht sich auch bemerkbar, dass sie nur wenige erfahrene Politiker um sich hat und viele Getreue rasch in alte Reaktionsmuster zurückfallen.
EU Wahlen Seit Monaten bringen sich die Parteien für die Europarlamentswahlen in Stellung. Dabei gehen die Interessen der Koalition deutlich erkennbar auseinander. Die Wahlumfragen in Italien ergeben seit langem Werte, nach denen Melonis Fratelli d’Italia weit vor den Parteien ihrer Koalition liegt. Wenn es keinen großen Umschwung gibt, wird sie bei den EU-Wahlen auf Kosten vor allem der Lega Salvinis etwa 10 Sitze mehr erhalten. Melonis Gruppe mit Ungarns Fidesz und Polens PiS wird so voraussichtlich im nächsten EU-Parlament die Le Pen-Lega-AfD-Fraktion überholen. Salvini wehrt sich. Er lud Marine Le Pen zu dem jährlichen Lombardenschwur-Gedenken (gegen Kaiser Barbarossa) nach Pontida ein. Manfred Weber als Chef der EVP-Gruppe wird verdächtigt, schon mit Meloni an einer Koalition zur Ablösung der schwarz-roten Ursula-Koalition zu basteln, zu der die Forza Italia des Berlusconi-Statthalters Tajani gehört. Der versucht nun als Außenminister und Vizeministerpräsident Profil zu gewinnen. In der Kritik an Deutschland sind sich alle einig; es scheint sogar, dass sie sich die Regierungsparteien dabei gegenseitig übertreffen wollen. Mit Kritik an der EU-Kommission halten sie sich zurück, außer dass Kommissar Gentiloni von Salvini kritisiert wurde, dass er nicht „im Workforce seines Heimatlandes“ zu spielen scheine.